Frau Burian, mit Ihrem neuen Roman behandeln Sie die große Frage nach der Autorenschaft des Nibelungenlieds. Was ist da aktuell der Kenntnisstand in der Forschung?
Mediävisten betrachten das zwölfte Jahrhundert als Übergangsphase in der Literaturgeschichte: Mündliche Erzähltraditionen gehen in Schriftlichkeit über, und es gibt viele Mischformen. Otfried Ehrismann nimmt an, dass Das Nibelungenlied, wie viele andere Bücher des hohen Mittelalters, für Lesung und öffentlichen Vortrag konzipiert war. Das Nibelungenlied greift außerdem auf alte, mündlich überlieferte Geschichten zurück – auf der einen Seite von Siegfried und auf der anderen Seite vom Untergang der Burgunden. Das Nibelungenlied stellt also den Anfang einer literarischen Schriftlichkeit dar, ist aber stark von Mündlichkeit geprägt. Wann und von wem der Urtext, der leider nicht überliefert ist, niedergeschrieben wurde, ist unklar. Joachim Heinzle fasst den Forschungsstand knapp zusammen: Er schreibt, dass es am Passauer Bischofshof mit größter Wahrscheinlichkeit eine Art ‚Nibelungenwerkstatt‘ gegeben hat, in der in kurzer Zeit der Grundtext und die verschiedenen Fassungen entstanden sind.
Aus welcher Lebenswelt kommt Hilde, die in Ihrem Roman zur Nibelungendichterin avanciert, und welchen Antrieb hat sie, das Heldenepos zu verfassen?
Im zwölften Jahrhundert sind die Möglichkeiten für Frauen, das eigene Leben in die Hand zu nehmen und den Lebensweg zu bestimmen, recht begrenzt. Trotzdem schafft es Hilde, die dem niederen Adel angehört und deren Familie verarmt ist, sich erfolgreich zu wehren, als ihre Eltern verlangen, dass sie den wohlhabenden Willibald ehelicht. Es ist allerdings eher Zufall, dass sie Lesen und Schreiben lernt, als Mann verkleidet an der Domschule in Worms studiert und dann von Heinrich dem Löwen aufgefordert wird, eine Heldenchronik über den Wendenkreuzzug zu verfassen. Auch, dass sie später den ersten und zweiten Teil des Nibelungenlieds schreibt, ist Schicksal. Hilde will den Literaturwettbewerb am Passauer Bischofshof gewinnen und so das Kloster Niedernburg retten, das ihretwegen verarmt ist; deshalb bringt sie das Heldenepos zu Pergament. Sie ist aber keine Autorin im gegenwärtigen Sinn. Sie schreibt den ersten Teil für den todkranken Dichter Lorenz nieder. Nach dessen Tod wirken alle Nonnen der Niedernburger Abtei am zweiten Teil mit, wie auch die Jüdin Zarah, die im Kloster Schutz vor Verfolgung gefunden hat. Die schwarze Nonne Nilu, die aus Afrika stammt, illustriert das Buch, und nach einem großen Streit zwischen Hilde und der gelähmten Nonne Herrad verliert Hilde die Lust am Projekt, und Herrad schreibt die Klage. Das Nibelungenlied ist also – zu zwei Dritteln – von Hilde niedergeschrieben worden, und sie hat sich auch kreativ beteiligt, aber das Buch ist nicht das Werk einer einzigen Schriftstellerin: Hilde hat das Material mitgestaltet, aber nicht erfunden.
Wie sind Sie auf das Thema der Autorenschaft des Nibelungenlieds eigentlich gestoßen?
Als ich 2020 Das Nibelungenlied intensiv erforscht habe, um für unsere Germanistikabteilung an der Uni Calgary einen Kurs zusammenzustellen, stieß ich auf einen Artikel, 1980 von Berta Lösel-Wieland-Engelmann veröffentlicht, der bei Germanisten kaum Beachtung gefunden hatte. Ihre These, dass eine Nonne in der Passauer Benediktinerinnenabtei Niedernburg Das Nibelungenlied geschrieben haben könnte, ließ mich nicht mehr los, und ich musste mir das abenteuerliche Leben der Frau vorstellen, die dieses außergewöhnliche Buch geschrieben haben könnte, das zum wichtigsten Werk der hochmittelalterlichen deutschsprachigen Literatur wurde und dessen spätere ,Unheilgeschichte‘ es mit deutschem Nationalismus, Krieg und Nazipropaganda verbinden sollte. Das Ergebnis ist mein historischer Roman Die Nibelungendichterin.
Ist Hilde ein Einzelfall im hohen Mittelalter, oder gab es eine dichterische Tradition unter den gebildeten Frauen der Zeit?
Es gab durchaus hochgebildete Frauen im Mittelalter – meist an den Fürstenhöfen und in Klöstern. Manche dieser Frauen haben auch geschrieben, und vor allem in Abteien konnten Frauen zusammenarbeiten und Werke gemeinsam gestalten. Hildegard von Bingen ist sicher eine der bekanntesten Autorinnen (und Forscherinnen und Komponistinnen) des hohen Mittelalters. Frauen waren auch an der Buchkunst – an der Herstellung kunstvoller Miniaturen zum Beispiel – beteiligt. In der Forschung gibt es da allerdings noch viele Lücken. Es sieht so aus, als ob es eine eigene dichterische Tradition, die es verschiedenen Frauen ermöglicht hätte, ihre weltlichen Werke zu schreiben und vorzutragen, wohl nicht gab.
Was uns heute auch sehr fehlt sind autobiografische oder biografische Zeugnisse – und zwar nicht nur von Frauen, sondern auch Männern. Sogar von den ganz Großen ihrer Zeit wissen wir nur sehr wenig. Über Wolfram von Eschenbach gibt es überhaupt keine historischen Zeugnisse, denn höfische Epiker, wie Joachim Bumke erklärt, gehörten oft nicht dem Hochadel an, und dementsprechend erscheinen ihre Namen weder in Chroniken noch in anderen historischen Schriften. Aber selbst wenn es Dokumente gibt, die bestätigen, wann und wo ein Dichter geboren wurde oder gestorben ist, liegt das Leben der Person oft im Dunklen. Wie haben die Menschen im Mittelalter gefühlt und gedacht? Gerade diese Frage beschäftigt mich, und in meiner Nibelungendichterin beantworte ich sie kreativ aber historisch und literaturwissenschaftlich fundiert.
Ist es Hildes Absicht, das Heldenepos der Öffentlichkeit zugänglich zu machen? Oder ist es ein Zufall, dass sie berühmt wird?
Hilde möchte ihre Versprechen halten: Sie hat ihrer sterbenden Freundin Adelheit versprochen, das Kloster vor dem Ruin zu retten, und sie hat dem schwerkranken Dichter Lorenz versichert, dass sie sein Werk zu Pergament bringen wird, damit er berühmt wird. Darüber hinaus hat Hilde keine dichterischen Ambitionen. Dass sie immer wieder mit Kaiser Friedrich Barbarossa in Konflikt gerät und – wegen ihrer Eigenwilligkeit – als ‚wilde Hilde‘ bekannt wird, ist reiner Zufall. Als große Künstlerin oder Autorin sieht sie sich gar nicht. Sie ist mit sich selbst eher unzufrieden, findet sich fehlbar und bezweifelt immer wieder, ob sie richtig handelt. Doch ihre Ruhelosigkeit, ihr Gerechtigkeitssinn, ihr Humor und ihre ungewöhnlichen Lebenserfahrungen machen sie, glaube ich, zu einer Protagonistin und Erzählerin, mit der sich viele Leserinnen identifizieren können.
Das Interview führte Christian Leeck.
Wuppertal, im September 2023