Wenn Conny Burian über ihr neues Buch „Ritter der Dunklen Sonne“ spricht, merkt man sofort: Für sie ist das Mittelalter kein stummes Zeitalter der Burgen, Schwerter und frommen Frömmigkeit, sondern ein Raum voller offener Fragen, gewagter Hypothesen und geheimnisvoller Leerstellen. Mit diesen Unbestimmtheiten spielt sie, wenn sie die Geschichte von Hilde, einer widerspenstigen Frau niederer Herkunft, erzählt. Hilde kämpft darin nicht nur gegen eine geheimnisvolle Geheimgesellschaft, sondern auch gegen die Schablonen, die wir uns heute vom Mittelalter machen.
Der "Parzival" als Ausgangspunkt

Ein Ausgangspunkt für Burians Gedanken ist der berühmte Gralsroman „Parzival“ von Wolfram von Eschenbach. Kaum ein Werk der mittelalterlichen Literatur hat so viele Rätsel aufgeworfen wie dieser Versroman über den Sucher des Heiligen Grals. Bis heute weiß man fast nichts über Wolframs Leben, seine Quellen und seine Intentionen. War da wirklich der geheimnisvolle provenzalische Dichter Kyot, den Wolfram als Gewährsmann nannte? Warum verwandelte sich der Gral bei ihm von einem heiligen Kelch in einen geheimnisvollen Stein? Und woher rührten seine Anspielungen auf das Nibelungenlied? Burian greift solche Fragen auf, gibt ihnen aber eine phantastische Wendung: In „Ritter der Dunklen Sonne“ spielt sie mit der Idee, Wolfram als Kind von niemand Geringerer als Hilde unterrichtet zu haben.
Die Protagonistin Hilde
Diese Hilde sei zuvor schon bei der Niederschrift des Nibelungenliedes im Umfeld eines todkranken Dichters tätig gewesen. Als Wolfram von einer okkulten Bruderschaft verschleppt wird, weil man in ihm den Schlüssel zum Gral vermutet, macht Hilde sich auf eine gefährliche Suche. Was folgt, ist ein Streifzug durch eine mittelalterliche Welt, die bewusst voller Anachronismen steckt – etwa Anspielungen auf die nationalsozialistische Gralsideologie um Himmlers Wewelsburg mit ihrem Sonnenrad. Die Autorin will damit Wolfram in eine Lage versetzen, die dem historischen Dichter unmöglich war: Er kann, an der Seite Hildes, Widerstand leisten gegen jene, die den Gralsmythos später missbrauchen sollten, und dabei Inspiration für sein späteres Hauptwerk gewinnen.
Doch wie kam Burian eigentlich auf die Figur Hilde? Am Anfang stand eine fast übersehene Hypothese: dass das Nibelungenlied von einer Passauer Nonne zu Pergament gebracht worden sein könnte. Diese Vorstellung entzündete ihre Fantasie. Sie begann, sich das Leben einer Frau auszumalen, die in den schriftlichen Prozess eines solch monumentalen Werkes verstrickt war – und die unversehens auch andere kulturelle Glanzlichter ihrer Epoche berührte. Aus dieser Projektion erwuchs eine Figur, die sich verselbständigte. Hilde wurde zum „Forrest Gump der mittelalterlichen Kulturgeschichte“, wie Burian augenzwinkernd sagt: eine Frau, die fast zufällig, aber mit umso größerer Wirkung, an entscheidenden Punkten der Literaturgeschichte auftaucht, mit Kaisern in Streit gerät und unbemerkt Spuren in die Überlieferung einwebt.
Gerade in dieser Figur steckt auch eine grundsätzliche Frage: Welche Rolle konnten Frauen im Mittelalter eigentlich spielen? Das gängige Bild einer Epoche, in der sie nichts zu sagen hatten, widerspricht Burian. Sie erinnert daran, dass schon Kriemhild im Nibelungenlied in der 23. Aventiure darüber nachdenkt, wie viel freier sie als Ritter wäre – eine überraschend moderne Überlegung. Auch im Hochmittelalter gab es einflussreiche Frauen, wie Eleonore von Aquitanien oder Hildegard von Bingen, die entweder weltliche Macht ausübten oder religiöse Autorität erlangten. Zwar waren ihre Lebenswege außergewöhnlich, doch sie belegen, dass die Stellung der Frau umstritten war und dass die höfische Literatur selbst Teil dieser Auseinandersetzung war. Dass Gewalt gegen Frauen in Texten wie Parzival oder im Nibelungenlied kritisiert wird, nimmt Burian ernst. Für sie ist Hildes literarische Abenteuer zugleich ein Weiterdenken dieser Debatten: Welche Möglichkeiten hätte eine Frau damals gehabt, wenn sie – wie Kriemhild es sich erträumte – tatsächlich zur Ritterin geschlagen worden wäre?
Ein Roman "zwischen den Genres"

So oszilliert auch „Ritter der Dunklen Sonne“ zwischen den Genres. Ist es ein historischer Roman oder Fantasy? Burian legt sich bewusst nicht fest. Die Welt, in der Hilde lebt, enthält viele akkurat geschilderte Details des mittelalterlichen Alltags, ist aber zugleich durchzogen von Elementen, die sich jeder rationalen Erklärung entziehen.
Burian verzichtet darauf, eine künstlich altertümelnde Sprache zu bemühen; stattdessen verleiht sie ihrer Protagonistin eine moderne Stimme. Sie selbst beschreibt es so: Die Menschen im Mittelalter haben geliebt, gelitten und gehofft wie wir – aber sie haben dies anders artikuliert, und vieles davon ist im Lauf der Jahrhunderte verstummt. Ihre Romanwelt ist deshalb keine archäologische Rekonstruktion, sondern ein Spiegel, in dem mittelalterliche Erfahrungen mit gegenwärtigen Perspektiven verschränkt werden.
Neue Mittelalter-Romane in Sicht
Und wie geht es mit Hilde weiter? Burian verrät bereits: Ein dritter Band ist in Arbeit. Darin verschlägt es die Heldin mit ihrem Gefährten Sir Gerald, ihrer Freundin Nilu und deren Verlobten Lancidant nach England. Am Hof von König Henry und Eleonore von Aquitanien treffen sie auf die geheimnisvolle Dichterin Marie de France – und geraten in ein tödliches Machtspiel. Es bleibt also dabei: Hildes Weg durch die Kulturgeschichte des Mittelalters führt von einem gefährlichen Abenteuer ins nächste, immer auf der Schwelle zwischen Historie und Fiktion, zwischen überlieferten Mythen und neu erfundenen Geschichten.
Das Buch "Ritter der dunklen Sonne" ist im Buchhandel sowie bei uns im Verlag erhältlich, als gedrucktes Buch (ISBN 978-3-910347-66-3) und als EPUB (ISBN: 978-3-910347-69-4).