Ihr Buch eignet sich vortrefflich als Einführung für Studierende und Fachlektüre für geschichtlich Interessierte. Mit dem Thema Wahrsagung im alten Rom schließen Sie eine Publikationslücke. Wie sind Sie auf diesen Publikationsbedarf gestoßen?
Im Rahmen meiner Dissertation über „Glauben und Aberglauben“ habe ich mich erstmals genauer mit den römischen Divinationspraktiken beschäftigt. Der Fokus dieser Arbeit lag auf der Entwicklungsgeschichte des Wortpaares religio und superstitio. Bei den Recherchen fiel mir zweierlei auf: Erstens, dass Wahrsagungsformen in beiden Bereichen einen breiten Raum einnehmen. Zweitens, dass eine umfassende systematische Betrachtung der vielen verschiedenen Divinationsarten bisher nicht vorlag.
Wie vielseitig war die Praxis der Wahrsagung im alten Rom?
In der Religion hatten Zeichenorakel den höchsten Stellenwert: Am bekanntesten sind das Auspicium (die Vogelschau) und die Haruspicina (die Eingeweideschau). Dabei werden aus dem Verhalten der Vögel und aus der Beschaffenheit der Innereien eines Opfertieres göttliche Botschaften abgeleitet. Die kultischen Experten für diese Zeicheneinholung waren sehr wichtige und angesehene Personen des öffentlichen Lebens, denn sie hatten die offizielle Aufgabe, alle staatlich geplanten Unternehmungen durch die Einholung göttlicher Zustimmung abzusegnen.
Doch auch jenseits der Religion war praktisch immer und überall mit Götterzeichen zu rechnen. Es konnten außergewöhnliche Vorgänge und Erscheinungen am Himmel oder auf der Erde, in der Natur oder im direkten Lebensumfeld des Menschen sein, weshalb das Geschäft der Zeichendeutung florierte. Darüber hinaus gab es zahlreiche zeichenbasierte Alltagsorakel für den Hausgebrauch. Weitere in Rom verbreitete Kategorien der Wahrsagung sind Losorakel, Schriftorakel, ekstatische Prophetie, heilige Orakelorte, Totenorakel, Traumorakel und Astrologie.
Wie sehr ließen die Römer den Einfluss von den Kulturen der eroberten Provinzen auf die eigenen Divinationsformen zu? Gab es so etwas wie was etruskische oder das griechische Primat?
Der als römisch bezeichnete Fundus divinatorischer Formen ist in Wahrheit ein Sammelsurium, ein Konglomerat unterschiedlicher kultureller Einflüsse. Das Beispiel der Etrusker, die vor den Römern die bestimmende Macht in Italien waren, zeigt deutlich, wie selbstverständlich etruskische Ansichten und Kultpraktiken in römische Formen gegossen oder schlicht vom Imperium aufgesogen und umetikettiert wurden. Aus heutiger Sicht lässt sich die etruskische Kultur nur noch schwer rekonstruieren, was nicht etwa daran liegt, dass die Römer alles Etruskische vernichtet hätten, sondern daran, dass ein Großteil der etruskischen Kultur in einem natürlichen, organischen Prozess in der neuen, römischen Kultur aufgegangen ist.
Im Bereich der Divination liegen nachweislich auch klare Verbindungen zum griechisch-hellenistischen und orientalischen Kulturraum vor. Das römische Volk war von den wahrsagerischen und magischen Praktiken des Orients begeistert.
Wie stark waren, abseits von Herrschaft und Politik, die alltäglichen Lebensgewohnheiten der Menschen durch Wahrsagung geprägt?
Der römische Bürger war es gewohnt, auf den Marktplätzen von Wahrsagern aller Art angesprochen zu werden, im Vorbeigehen ein Schicksalslos für den Tag zu ziehen oder in den eigenen vier Wänden ein schnelles und praktikables Alltagsorakel zu befragen. Mit göttlichen Zeichen war immer zu rechnen. Wenn man zum Beispiel morgens die Haustür öffnete und eine Schlange auf der Türschwelle lag, überlegte man sich gut, was diese Begebenheit einem vielleicht sagen wollte und wie am besten damit umzugehen war. Der Großteil der Römer glaubte an die Wahrsagung. Die Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens machten es dem Volk vor. So sind beispielsweise Caesar oder Augustus für ihre ausgeprägte Zeichengläubigkeit berühmt.
Welchen Bezug zur Gegenwart beabsichtigen Sie mit Ihrem Buch beim Leser auszulösen?
Es ist mir ein Anliegen, den Leser zum Nachdenken über offensichtliche Parallelen und Kontinuitäten zwischen damaligen und heutigen „abergläubischen“ Vorstellungen anzuregen. Ich setze den Begriff „abergläubisch“ in Anführungszeichen, weil er an sich ein polemischer Ausdruck, eine negative Worthülse ist, die einen bestimmten Glauben als „falsch“ bezeichnet. Aus Sicht der römischen Führungselite, der Religion und der Aufklärung ist es einfach, Vorstellungen, die nicht ins eigene Konzept passen, als falsch abzustempeln. Doch letztlich ist jeder sogenannte „Aberglaube“ nicht mehr und nicht weniger als ein menschlicher Glaube.
Ich finde es bemerkenswert, dass über 2000 Jahre alte Denkmuster und Glaubensansichten auch heute noch in den Köpfen der Menschen wirken, zum Teil, ohne sich gewandelt zu haben. Das verweist auf eine Grundbeschaffenheit des menschlichen Geistes, die sich in zwei Jahrtausenden nicht verändert zu haben scheint.
Das Interview führte Christian Leeck
Wuppertal, im Juni 2023