Mit Ihrem neuen Buch zur Musikgeschichte von Meiningen schließen Sie eine Lücke. Was ist das Besondere an der musikalischen Vergangenheit Meiningens, an die Sie mit diesem Buch erinnern wollen?
Die südthüringische Stadt Meiningen war jahrhundertelang ein mitteldeutsches Musikzentrum, vergleichbar mit Weimar oder Leipzig. Hier wirkten Mitglieder der Bach-Familie sowie die Komponisten Johannes Brahms, Richard Strauss oder Max Reger, dessen Partituren vor Ort im Reger-Archiv liegen. Hofkapelle und Theater hatten eine europaweite Ausstrahlung.
Womit erklären Sie sich die Anziehungskraft, die Meiningen über die Jahrhunderte hinweg auf Musiker, Dirigenten und Komponisten ganz Europas ausübte?
Meiningen war Residenz des Herzogtums Sachsen-Meiningen. Die Mitglieder des Hauses erwiesen sich über die Generationen hinweg aus äußerst kunstsinnig. Als Kleinstaat kompensierte Meiningen seine politische Bedeutungslosigkeit durch den hohen Stellenwert von Bildung und Kultur, wozu auch der Unterhalt von Theater und Hofkapelle gehörte. Das brachte Prestige, war aber preiswerter, als eine große Armee aufzubauen. Die Meininger Herzöge finanzierten lieber Musiker als Soldaten.
Kann man sagen, dass die Begeisterung für die Musik innerhalb des Meininger Hofes „weitervererbt“ wurde?
Die Meininger Herzöge legten großen Wert auf die exzellente Erziehung und Ausbildung ihres Nachwuchses. Oftmals waren sie selbst künstlerisch tätig. Im frühen 18. Jahrhundert hatte etwa Herzog Ernst Ludwig das Szepter in der Hand, der dichtete und Kirchenlieder komponierte.
Dass Meiningen Ende des 19. Jahrhunderts europaweit als kulturelles Zentrum von sich reden machte, verdankt sich vor allem Herzog Georg II. von Sachsen-Meinigen, dem „Theaterherzog“. Auch er war hochgebildet. In seiner Jugend absolvierte er nicht nur die für den Adel obligatorische militärische Ausbildung, sondern studierte auch in Bonn und Leipzig die Fächer Geschichte, Jura, Volkswirtschaft und Kunstgeschichte.
Wie prägte Herzog Georg II. von Sachsen-Meinigen sein kleines Herzogtum?
In seiner langen Regierungszeit zwischen 1866 bis 1914 herrschte am Meininger Hof eine geistig anregende, von starrer Etikette befreite Atmosphäre. Georg dilettierte selbst als Maler und Pianist. Er förderte intensiv sein Theater und Orchester, lud Komponisten wie Richard Wagner, Franz Liszt und Edvard Grieg ein. Er machte Meiningen zu einem liberalen Musterstaat, betrieb eine kluge Wirtschafts- und Sozialpolitik, führte eine ordentliche Verwaltung.
Worin lag Ihre persönliche Motivation, sich mit dem Thema zu beschäftigen? Welche Beziehungen pflegen Sie zu Meiningen?
Meine mütterlichen Vorfahren kommen aus Meiningen. Als Kind habe ich viele herrliche Wochen bei meinen Großeltern in der nahegelegenen Rhön verbracht. Hier hatte sich mein Meininger Großvater, ein begabter Klavierspieler und Beethoven-Kenner, als Bäcker- und Konditormeister niedergelassen. Wir besuchten regelmäßig seine Schwester in Meiningen, die in der Schönen Aussicht unter dem Dach einer alten Villa wohnte. Da hatte man wirklich eine herrliche Aussicht über die Altstadt.
Nach wie vor nehme ich Anteil am Meininger Kulturleben, indem ich für das Feuilleton der Thüringer Regionalzeitung Freies Wort schreibe.
Ihr Buch erscheint pünktlich zum touristischen Themenjahr 2024 „Thüringer Burgen und ihre Geschichten“. Inwieweit bereichert Ihr Buch diese Kampagne?
Eine wichtige Bedeutung im Themenjahr spielt natürlich Meiningens prächtiges Barockschloss, die Elisabethenburg, das einstige Residenzschloss. Hier fanden schon immer Konzerte statt. Heute gehört das Schloss zu den Meininger Museen. In den einstigen Wohnräumen des Herzogs Georg II. läuft die Ausstellung „Meiningen – Musenhof zwischen Weimar und Bayreuth“, die einen anschaulichen Einblick in die Meininger Musikgeschichte bietet.
Können wir davon ausgehen, dass das „Wunder von Meiningen“ eine Zukunft hat?
Der Publikumsschwund nach Corona und finanzielle Engpässe stellen viele Theater und Museen vor Herausforderungen. Meiningen kann aber davon profitieren, dass es schon einmal eine schwere Krise gemeistert hat. In den Neunzigern wurden zahlreiche Theater und Orchester auf dem Gebiet der einstigen DDR abgewickelt oder fusioniert. Das Meininger Theater ist diesem Schicksal entgangen und konnte sogar international Aufsehen erregen. Damals entstand der Spruch vom „Wunder von Meiningen“.
Außerdem haben die Bürger einen entscheidenden Anteil an diesem Wunder. Die Musik und das Theater sind in Meiningen Stadtgespräch. Jeder in der Stadt kennt einen, der im Orchester spielt, im Chor singt oder Kostüme schneidert. Alle sind irgendwie mit dem Theater verbandelt. Das „Wunder von Meiningen“ ist also nicht etwa eine Erfindung des Feuilletons. Aber so etwas ist nicht selbstverständlich, sondern muss gehegt und gepflegt werden – durch bürgerschaftliches Engagement, aber auch durch den Einsatz der Politik.
Das Interview führte Christian Leeck
Wuppertal, im September 2023