Mit Ihrem Erstlingswerk „Bevor der Herbst kommt“ gelingt Ihnen der Auftakt zu Ihrer schriftstellerischen Tätigkeit. Woher nahmen Sie die Inspiration für die Handlung dieses Romans?
Erzählt wird die Geschichte von Sophia Mohr und Anton Auling, Kinder aus Handwerkerfamilien in Diepholz und Münster. Die beiden wachsen im ausgehenden 18. Jahrhundert in einer Gesellschaft auf, die es ihnen sehr schwer macht, eigene Lebenspläne zu realisieren. Besonders Sophia als junge Frau muss sich gegen viele Widerstände durchsetzen, bis sie schließlich aus ihrem Elternhaus ausbricht und sich auf den Weg in ein eigenes Leben macht.
Der Stoff meines Buches beruht auf wahren Gegebenheiten. Durch einen sehr umfangreichen Familienstammbaum, den meine Schwester Mechthild Schröer zusammengetragen hat, erfuhr ich, dass sich meine Ur-Ur-Ur-Großeltern Anton und Sophia Auling am Anfang des 19. Jahrhunderts in Vechta niedergelassen haben. Sie führten dort eine Goldschmiedewerkstatt, die meine Eltern in fünfter Generation weitergeführt haben.
Ich begann mich zu fragen: Wo haben meine Ur-Ur-Ur-Großeltern sich kennengelernt? Warum haben sie sich ausgerechnet in Vechta niedergelassen? Wie haben sie gelebt? Was haben sie gefühlt? Wonach haben sie sich gesehnt? Wofür haben sie gekämpft und gearbeitet? – Davon steht nichts im Stammbaum. Keiner hat es aufgeschrieben und keiner kann sich mehr daran erinnern.
Damit konnte ich mich nur schwer abfinden. Ich wollte nicht nur die Fakten und Zahlen betrachten, nicht nur Aufsätze, Bücher, Tabellen, Zeichnungen und Listen über diese Zeit lesen, sondern das Leben dahinter spüren. Ich wollte verstehen, wie meine Vorfahren gelebt haben. So entstanden Geschichten in meinem Kopf, Geschichten über den Alltag in Diepholz und Münster, in Vechta, Osnabrück, Bonn und Oldenburg, und ich begann, sie aufzuschreiben.
Mit Sophia Mohr, der Tochter des Perückenmeisters Arnold Mohr, und dessen Frau Dorothea rücken Sie zwei Frauen in den Vordergrund Ihrer Erzählung. Welche Rolle nahm die Frau im Zunftwesen des ausgehenden 18. Jahrhunderts ein?
Innerhalb der Zünfte hatten Frauen so gut wie gar nicht die Möglichkeit, ökonomisch unabhängig von Männern ein selbstbestimmtes Leben zu führen. In der Regel waren sie auf die Ehe als Versorgungsinstitution angewiesen.
Nur in sehr begrenzten Fällen, unter anderem in Köln, gab es Frauenzünfte und war es Frauen möglich, eine Handwerksausbildung zu absolvieren. Einen Meistertitel zu erlangen, war unmöglich. Frauen wurden bei Bedarf zu Hilfs- und Handlangertätigkeiten herangezogen, waren ansonsten aber für den Haushalt und die Kindererziehung zuständig.
Die einzige Möglichkeit für eine Frau, eine Werkstatt zu führen, gab ihnen das Witwenprivileg. Das war das Recht der Handwerkerwitwe, den Betrieb auch nach dem Tod des Ehemannes oder bei seiner Abwesenheit führen zu dürfen.
Die Meisterwitwen wurden jedoch eingeschränkt hinsichtlich der Zeitdauer, in der sie eine Werkstatt fortführen durften, oder es wurde ihnen verboten, Gesellen einzustellen. In der Regel blieb ihnen daher nur die Möglichkeit, erneut einen Gesellen oder Meister ihrer Zunft zu heiraten, um diesem neuen Ehemann dann die Leitung der Werkstatt zu übergeben. Des Weiteren konnte eine Witwe ein Bittgesuch einreichen, um ihrem Sohn, der vielleicht noch in der Ausbildung zum Gesellen war, die Fortführung der Werkstatt zu ermöglichen. In solchen Fällen konnte er von bestimmten Auflagen wie der Anzahl der Gesellenjahre oder der Wanderschaft entbunden werden.
Gab es in einer Handwerkerfamilie keinen männlichen Nachfolger, so wurden in der Regel die Töchter an Meistersöhne aus dem gleichen Gewerbe verheiratet. Dadurch konnte die Werkstatt in Familienhand weitergeführt werden.
Worin sehen Sie den Impetus, den Ihr Roman in Bezug auf die gesellschaftliche Akzeptanz der Frau in der heutigen Arbeitswelt liefern kann?
An dem Beispiel von Sophia verdeutliche ich, dass den Frauen in der Geschichte immer wieder Steine in den Weg gelegt wurden, selbstbestimmt über ihre berufliche Zukunft zu entscheiden, obwohl sie genauso gute oder sogar bessere Arbeit als Männer erbringen können.
Dabei änderte sich die Rolle der Frau in der Arbeitswelt immer wieder. Wenn ihre Arbeitskraft benötigt wurde, war sie gut genug, um auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen, kaum aber wandelten sich diese Erfordernisse, so wurde sie wieder zurückgedrängt an Heim und Herd und in die Kindererziehung.
Auch in meiner eigenen Familie war diese Ungleichheit noch verwurzelt. Mein Vater war Uhrmacher- und Optikermeister, meine Mutter Uhrmachergesellin. Obwohl sie in den fünfziger Jahren ihre Gesellenprüfung als Landessiegerin in Niedersachsen abgeschlossen hatte, verzichtete sie danach darauf, den Meistertitel zu erwerben. Ihr oblag die Rolle, sich neben der Arbeit in der Werkstatt und dem Verkauf um den Haushalt und die Kinder zu kümmern. Obwohl meine Mutter eine starke Persönlichkeit war, hat sie diese Rolle angenommen. Damit oblag ihr eine Aufgabe, die im Grunde nicht zu bewältigen war.
War es in ihrer Generation jedoch noch nicht üblich, dass Frauen einen qualifizierten Beruf erlernten, so hat meine Mutter großen Wert darauf gelegt, dass jede ihrer drei Töchter eine hochwertige Berufsausbildung erhielt.
Auch heute lastet trotz der Berufstätigkeit beider Eheleute oft noch der größte Teil der Hausarbeit, der Kindererziehung und des sozialen Managements auf den Schultern von Frauen. Und auch heute verdient eine Frau im Durchschnitt noch immer weniger als ein Mann.
Hier müssen dringend Lösungen gefunden werden, die zu einer Gleichberechtigung in allen Lebensbereichen – nicht nur in der Arbeitswelt – führen, um die Familien zu entlasten und die Frau nicht der Doppel- und Dreifachbelastung auszusetzen.
Die Handlung Ihres Romans findet im hannoverschen Diepholz, in Münster, Osnabrück, Vechta und Oldenburg statt. Wie gestalteten Sie Ihre Recherche, wenn es um Personen, Handlungen und Schauplätze geht?
Mein Buch ist zwar ein fiktiver Roman, dennoch haben fast alle Personen, die darin vorkommen, tatsächlich gelebt. Meine Geschichte hält sich so genau wie nur möglich an ihre vorhandenen Lebensdaten.
Durch meine Schwester Mechthild Schröer bin ich inspiriert worden, diesen Roman zu schreiben. Über Jahre hat sie auf einer Internet-Plattform einen Familienstammbaum zusammengetragen, der seinesgleichen sucht. Sie hat mir Zugang zu diesem Datenschatz eingeräumt. So konnte ich in diesem gewaltigen Historienpool „spazieren gehen“, mich durch die Generationen klicken, Eintragungen in Kirchenbüchern wie Tauf-, Heirats-, oder Todesdaten nachlesen und Dokumente wie Kaufurkunden, Gerichtsunterlagen, Fotos, Zeitungsmeldungen einsehen. Unter Zuhilfenahme dieses Stammbaum bin ich tief in die „Handwerksgeschichte“ meiner Familie eingedrungen.
Über die Geschichte meiner Geburtsstadt Vechta habe ich neben meinem Schulunterricht aus etlichen Büchern erfahren. Besonders sei hier das vierbändige Werk „Beiträge zur Geschichte der Stadt Vechta“ genannt. Zudem war mir meine Schwester bei besonderen Fragestellungen eine große Hilfe. Sie arbeitet ehrenamtlich in der Heimatbibliothek in Vechta und recherchierte für mich geschichtliche Hintergründe, wann immer ich danach fragte.
Die Städte Münster, Osnabrück und Diepholz sowie natürlich Oldenburg, wo ich seit mehr als vierzig Jahren lebe, sind mir aus eigener Anschauung bekannt. Ich habe dort an Stadtführungen teilgenommen, Landesbibliotheken, Archive und Stadtmuseen besucht und Gespräche mit Ortskundigen geführt.
Wie sehr hat der Arbeitsalltag in Ihrem elterlichen Betrieb in Vechta zum Entstehen dieses Romans beigetragen?
Der Arbeitsalltag meiner Eltern hat natürlich eine entscheidende Rolle für die Entstehung meines Romans gespielt. Gemeinsam mit meinen beiden Schwestern bin ich in den sechziger Jahren in einer Handwerkerfamilie aufgewachsen. Meine Eltern hielten sich nahezu den gesamten Tag über in der Werkstatt oder im Laden auf. Uns Kindern wurde von klein auf beigebracht, uns mit unseren Belangen dem Betriebsablauf unterzuordnen. In der Werkstatt stand zwar ein Sessel, in den wir uns hocken konnten, wenn wir etwas auf dem Herzen hatten, aber das musste ständig zwischen Tür und Angel passieren. Wenn Kundschaft im Geschäft war, durften wir auf keinen Fall stören, wir hatten zu warten, bis der Laden leer war – das konnte unter Umständen auch schon mal länger als eine halbe Stunde dauern.
Wichtig war unser Verhalten nach außen. Für meine Eltern war es eine Katastrophe, wenn wir nicht adrett und ordentlich in der Stadt unterwegs waren, denn: „Was sollen die Leute nur sagen?“ Urlaub gab es bei uns nie. Das Geschäft wurde niemals geschlossen, die Kunden könnten ja zur Konkurrenz gehen. In den Ferien fuhren wir Kinder also zu Verwandten, später dann mit den katholischen Jugendgruppen auf Freizeiten.
Natürlich wurden wir Kinder, sobald es möglich war, auch in den Betrieb eingebunden. Wir mussten im Laden beim Bedienen helfen, der Mutter bei der Inventur zur Hand gehen und selbstverständlich auch im Haushalt und bei der Betreuung der Geschwister und bettlägeriger Familienangehöriger mithelfen. Irgendwann stellten meine Eltern dann halbtags eine Haushaltshilfe ein, dadurch entspannte sich die Situation ein wenig.
Die Eindrücke aus dieser Zeit finden sich natürlich auch in meinem Roman wieder. Sophia und Anton wachsen in Handwerkerfamilien auf. Während Anton die Arbeit in der Werkstatt untersagt wird, da es dort zu gefährlich ist, wird Sophia bereits als Kind in die Aufgaben des Perückenhandwerks eingebunden. Beide werden zu Hausarbeiten und zur Betreuung der Geschwister herangezogen.
Sie kündigen mit diesem ersten Roman eine fünfbändige Familiensaga an. Welche spannenden Entwicklungen im Leben von Sophie und Anton darf der Leser im zweiten Band erwarten?
Ich möchte hier sicher noch nicht zu viel verraten, jedoch wird Sophia sich aufmachen nach Oldenburg und dort versuchen, sich ein eigenes Leben aufzubauen. Dort trifft sie auf zugewandte Menschen, die ihr das Leben erleichtern. Sie ist fleißig, beharrlich und interessiert, plant sogar, sich mit einer kleinen Werkstatt selbständig zu machen, dennoch ist sie in ihrer Rolle als unverheiratete Frau gefangen. Ihr Bruder will sie aus Oldenburg zurück nach Diepholz holen, um sie dort zu verheiraten, ausgerechnet mit jenem Mann, den sie abgrundtief hasst.
Anton ist derzeit auf seiner Gesellenwanderung. Er verlebt einige Monate in Bremen, Hamburg und Lübeck. Dort erwarten ihn zum Teil widrige Umstände, mit denen er fertig werden muss. Er arbeitet engagiert in seinem Handwerk, kann aber nach Feierabend so mancher Versuchung nicht widerstehen. In Lübeck läuft er sogar Gefahr, ehrlos aus der Zunft entlassen zu werden.
Die Liebesbeziehung zwischen Sophia und Anton spielt natürlich weiterhin eine Rolle. Es bleiben ihnen nur Briefe, um miteinander in Kontakt zu bleiben. Ob sie sich eines Tages wiedersehen werden, steht in den Sternen.
Das Interview führte Christian Leeck.
Wuppertal, im September 2023